top of page
AutorenbildLeonie Joos

Das Unwohlsein der modernen Mutter oder Her story

Aktualisiert: 10. Okt.


Dies ist der gewagte Ansatz, das Unwohlsein der modernen Mutter im Kontext der gesamten Menschheitsgeschichte mit Perspektive auf die Frauen - Herstory - zu erklären. Leider gibt es im Deutschen keinen vergleichbar guten Begriff, um die Geschichte der Frau treffend auszudrücken. Deswegen finde ich den englischen Begriff Herstory so klug und passend als Gegensatz zu History.


Mit Herstory ist die weibliche Perspektive der Menschheitsgeschichte gemeint. Die Geschichte der Frauen und wie sie sich über die Jahrtausende verändert und zum heutige Konstrukt einer patriarchalen Gesellschaft geführt hat.


Herstory beschreibt die Geschichte von uns Frauen, wie wir über zig Jahrtausende als das Leben erschaffende & Leben schenkende Geschlecht im Zentrum menschlichen Zusammenlebens standen. Wie dieses Weibliche verehrt, ja vergöttert wurde und wie sich das in den letzten - wenigen Tausend - Jahren wandelte...

Wir Frauen waren gleichwertige Mitglieder der Nomadenvölker, wir sammelten & jagten. Als Mutter erfuhren wir besondere Verehrung & besonderen Schutz. Wir trugen unsere Babys bei uns, so lange sie gestillt wurden und sobald sie laufen konnten, übernahm die gesamte Sippe - ob männlich oder weiblich - die Verantwortung und kümmerte sich um die Kinder.

Das Mutterwerden wurde damit einerseits als Transformation zelebriert, aber mehr auf spiritueller Ebene, im Alltag war der Einschnitt im Vergleich zu unserem Leben „davor“ nicht besonders groß. Wir machten weiter, wie bisher - entweder mit unseren Kindern auf dem Rücken oder mit der geteilten Betreuung & Verantwortung zwischen all unseren Stammesmitgliedern. Noch heute gibt es Völker, in denen die Kinder alle Frauen der Sippe als Mutter bezeichnen und diese die Rolle auch leben.

Dieser Teil der Herstory zog sich über den größten Teil der Menschheitsgeschichte, also über ca. 30.000 Jahre. Das bedeutet die längste Zeit der Evolution war für uns Frauen Vereinbarkeit unser Leben, wir wurden als Mütter geehrt und wertgeschätzt und unsere Freiheit durch die Mutterrolle nicht eingeschränkt.


Geändert hat sich das erst in den letzten Jahrtausenden, in denen sich die Gesellschaftsform zunehmend zum Patriarchat wandelte: Die Wandervölker wurden sesshaft und Besitz spielt eine zunehmend größere Rolle. Dieser wurde verstärkt von Männern erkämpft, verteidigt und an die Söhne weiter vererbt. Frauen waren Bestandteil dieses „Besitzes“ und sollten vor allem das Erbe durch das Gebären und Großziehen von Kindern sicherstellen. Unsere Rechte & Freiheiten wurden zunehmend massiv eingeschränkt. Wir Frauen wurden immer mehr als das untergeordnete Geschlecht an den Rand der Gesellschaft, beziehungsweise an Heim und Herd und in die alleinige Fürsorge für die Kinder gedrängt. Diese Sicht auf die Rolle der Frau - und insbesondere ihrer Funktion als Mutter - ist jedoch im Gesamtverlauf der Menschheitsgeschichte sehr jung und hat sich erst in den letzten 10.000 Jahren etabliert.

Auch wenn wir in der 2. Hälfte (!!!) des letzten Jahrhunderts zunehmend mehr Rechte & Freiheiten wieder erlangt haben, wie z.B. das Wahlrecht, das Recht auf eigenen Besitz (der nicht mit der Hochzeit auf den Mann übergeht) und das Recht auf Selbstbestimmung über unseren Körper (Abtreibung - zumindest in Grenzen), so stehen die massiven Säulen des Patriarchat immer noch sehr stabil. Wir sind finanziell deutlich schlechter gestellt als Männer und damit häufig von Partner oder Vater Staat abhängig (Gender Pay Gap, Altersarmut ist weiblich etc.), Kinderbetreuung ist zu großen Teilen nach wie vor hauptsächlich Frauensache und Gewalt gegen Frauen an der Tagesordnung (häusliche Gewalt, Femizide…).

Es ist immer noch „a mans world“!

Ich glaube, dass das „Unwohlsein der modernen Mutter“ sich genau in dieser Ambivalenz zeigt: Wir Frauen sind evolutionär gesehen nicht dafür gemacht, alleine für die Kinderfürsorge verantwortlich zu sein und Heim und Herd zu hüten. Und wir haben den Großteil unserer Geschichte auch gar nicht in dieser Rolle verbracht. Vereinbarkeit wurde erst in den wenigen letzten Jahrtausenden zum Problem. Der Kampf der modernen Mutter zwischen ihrer - gesellschaftlich auferlegten & verinnerlichten - Rolle und ihrem je nach individuellen Bedürfnis nach Selbstwirksamkeit & Selbstverwirklichung ist - menschheitsgeschichtlich gesehen - ein sehr junger Kampf. Das war 30.000 Jahre lang gar kein Thema!

In Herstory liegt ein großes Potenzial zum Verständnis dieses inneren Störgefühls von uns Müttern mit unserer Situtation: wir waren nie dafür gemacht, das gesellschaftlich heute vorherrschende - nie von uns selbst natürlich gewählte - patriarchale Konstrukt von Mutterschaft, zu leben.


Die Lösung für das Problem der Vereinbarkeit und der verzweifelte Versuch, an uns selbst, unserem Mind-Set, unserer Einstellung zu arbeiten und uns selbst zu „optimieren“, um in das Widernatürliche Korsett zu passen, liegt NICHT in uns, sondern im System! Wir Mütter sind mit unseren Gefühlen & Wahrnehmungen nicht die Ursache, deswegen können wir es mit unserem fortwährenden inneren Kampf auch nicht lösen. Die Lösung liegt im Außen…

Natürlich fühlen wir Mütter uns unwohl mit dem „modernen“, begrenzenden & abwertenden Mutterbild. Wir waren mit unseren lebensschaffenden & lebensschenkenden Fähigkeiten einst Göttinnen im Zentrum der gesellschaftlichen Anerkennung.


Natürlich fühlen wir uns unwohl wenn wir uns zwischen Lohn- & Fürsorgearbeit entscheiden müssen: eine unmögliche Wahl gegen unsere uralte Natur.

Natürlich fühlen wir uns unwohl, wenn wir am Rande der Gesellschaft als Einzelkämpferinnen , darum ringen, in Politik & Beruf doch auch einmal mitgedacht zu werden. Keine von uns trägt es in sich ohne das Mittragen der Sippe alle Anforderungen als „vollwertiges“ Mitglied der Gesellschaft zu erfüllen. Und da beißt sich die Katze in den Schwanz: Ohne Sippe keine Vereinbarkeit, da kann ich noch so sehr Supermom sein. Es ist schlicht nicht möglich, den Balanceakt auf dem dünnen Drahtseil der Working Mom alleine zu stemmen. Wo verdammt nochmal ist meine Sippe?!

Natürlich fühlen wir uns unwohl, wenn wir erkennen, dass wir schachmatt sind zwischen des evolutionär in uns angelegten Blueprints, der ja immerhin den modernen Anforderungen schon fast wieder entspricht, denn natürlich sollen Frauen Mutter sein UND arbeiten. Bei der Gleichung fehlt jedoch völlig die Variable der Umgebungsbedingungen, der ermöglichenden Strukturen, die NICHT Aufgabe der einzelnen Mutter sind!

Das Unwohlsein der modernen Mutter ist kein neues Phänomen. Dieses Unwohlsein begann höchstwahrscheinlich in dem Moment, als wir Frauen aus unsere zig jahrtausendealten, ureigenen Natur verdrängt wurden. Als Herstory immer mehr aus dem Bewusstsein der Menschen verschwand. Es war seitdem ein fortwährender, sich zuspitzender Prozess... Dieses Gefühl wird uns nur in der modernen Zeit immer bewusster und wir heutigen Frauen haben nach jahrtausendelangem Leid unserer Ahninnen endlich den Mut haben, es raus zu schreien und dem Störungsgefühl in uns auf den Grund zu gehen.

Das Unwohlsein der modernen Mütter ist die logische Folge von Herstory und kann nur durch das gemeingesellschaftliche aufarbeiten & korrigieren derselben gelöst werden. Nicht noch mehr Anstrengung den (auch eigenen) Anspüchen gerecht zu werden, noch mehr Selbstzweifel und Selbstoptimierung sind die Lösung.


Aus Herstory können wir Strukturen herleiten, die Frauen brauchen, um (auch) als Mutter eben nicht in den Verlust der eigenen Identität, die Ambivalenz der Vereinbarkeit und die Opferrolle des Patriarchats zu fallen.


Change the system, not the women- verändert das System und nicht die Frauen!


Welche gesellschaftlichen Strukturen braucht es, um die Mutterrolle wieder zu öffnen und so frei zu machen, wie sie einst war?


Was können wir als Gesellschaft und jede*r Einzelne tun, um den Fortbestand unserer Art und die Wertschätzung der Leistung der Mütter wieder in den Fokus zu rücken und diesen Wert gemeinsam zu tragen?


Und vor allem: wie können wir Herstory erzählen und integrieren, um uns an unsere eigentliche, gesamte Geschichte zu erinnern und die aktuell einseitige, patriarchale Perspektive der History um die fehlende Hälfte zu ergänzen und in unsere Vollkommenheit als Menschheit zu kommen?




Falls du eine geniale Geschichtsstunde in Herstory anhören möchtest, empfehle ich dir wärmstens die Podcastfolge dazu von Antonia Unger hier auf Spotify.

Das Titelfoto dieses Beitrages ist von Dimitry Zub von Pexels

151 Ansichten0 Kommentare

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen

Comentarios


bottom of page